„Ich bin hier.“


„Er erreichte keines seiner Ziele...“

„Ich bin hier.“ Dieser scheinbar lapidare Ausspruch birgt in sich einen Grundkonflikt der menschlichen Existenz. Denn stets ist dieser Satz gebunden an einen bestimmten Ort oder Standpunkt einerseits sowie an eine temporäre Situation andererseits, die das Davor und das Danach zwangsläufig mit einbeziehen muss. Insofern ist die Aussage „Ich bin hier“ als Statement fatal, da sie einen einstweiligen Endpunkt markiert, der auf Stillstand abzielen könnte. Gleichwohl ist das Ankommen an einem vermeintlichen Idealzustand ein wesentliches Bedürfnis des Menschen, welches unter bestimmten Umständen einen mühevollen Weg dahin rechtfertigt. Nur wenigen gilt dieser Weg selbst als Ziel und fast immer entpuppt sich der angestrebte, endlich erreichte Punkt nur als Startlinie für eine neue Etappe auf der Tour des Lebens.

Das Projekt „Marinus“, welches die Künstlergruppe solitaire factory im Zeitraum von 2002 bis 2004 mit verschiedenartigen Ausstellungen und Aktionen realisierte und nun hier seine Fortsetzung findet, nimmt Bezug auf das Leben des Holländers Marinus van der Lubbe. Dessen kurze Biografie, ein wahrer Katalog des Scheiterns, sollte durch den spektakulären Brandanschlag auf das Gebäude des Deutschen Reichstages am 27. Februar 1933 eine historische Bedeutung erlangen. Gleichzeitig war die Brandstiftung, die in ihrer Wirkung das genaue Gegenteil dessen erreichte, was van der Lubbe beabsichtigt hatte, sein persönliches Desaster. Nach seiner Gefangennahme im brennenden Reichstag verfiel Marinus in eine schwere Haftpsychose, die ihm in den Geschichtsbüchern zu Unrecht den Ruf des „verrückten Holländers“ eintrug. Anfang 1934 starb er in Leipzig auf der Guillotine.

Die Künstlergruppe hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit prominenten historischen Personen beschäftigt und deren Wirken in ihrer Zeit mit dem Hier und Jetzt in Verbindung gebracht. Bisher mussten meist die einstmals Mächtigen, angefangen bei Lenin, über Mao, Stalin und Hitler, bis hin zu Ulbricht und Adenauer mit ihren allesamt gescheiterten gesellschaftlichen Visionen (im Fall Adenauer steht das endgültige Scheitern noch aus, ist aber aus Sicht der Künstler zweifelsfrei zu erwarten) für die hintersinnige künstlerische Verwertung herhalten. Bei „Marinus“ dagegen ist ein Outlaw der Protagonist. Eine unendlich tragische Figur des 20. Jahrhunderts, die als erste einen wirklich spektakulären Akt des Widerstands gegen das Hitlerregime riskiert hat und doch noch nie in den Status eines Widerstandskämpfers erhoben wurde. Statt dessen wurde die Person van der Lubbe von allen Ideologen instrumentalisiert. Den Nationalsozialisten galt er als Beweis für die kommunistische Gefahr, - der Reichstagsbrand diente ihnen als Vorwand für die erste große staatlich sanktionierte Terrorwelle gegen Andersdenkende aller Art. Die stalinistisch geprägte Kommunistische Internationale verunglimpfte Marinus im nachweislich von Lügen strotzenden „Braunbuch“ als verwirrten Helfershelfer Görings. Gerade letztere Version hat sich im Bewusstsein von Generationen fest gesetzt und gilt noch heute als gültige Lehrmeinung.

Tatsächlich war Marinus ein Suchender. Jung, aktionistisch, mittellos, oft naiv aber nicht unintelligent, den unterprivilegierten Schichten verbunden, dazu noch gepeinigt von einem unheilbaren Augenleiden, war er getrieben vom Drang nach sozialer Gerechtigkeit. Sein anarchistisch geprägter Widerwille gegen staatliche Repression an sich, gegen die faschistischen Tendenzen in Europa, aber auch gegen die dogmatischen Lehren der moskautreuen holländischen Kommunisten, machte ihn früh zum Außenseiter. Er blieb es bis heute. Die Diskussionen um die letzte Wahrheit über Marinus’ Rolle beim Reichstagsbrand finden nach wie vor statt. Doch sie sind leiser geworden.

Das Projekt „Marinus“ stellt durchaus einen ernst gemeinten Versuch der Wiedergutmachung, der moralischen Rehabilitation (die juristische Rehabilitation geschah erst im Februar 2008!) dar. Trotzdem oder eben darum wird auch von solitaire factory die Person van der Lubbes ganz bewusst instrumentalisiert. Marinus dient den Künstlern als Exempel für ein selbst bestimmtes Dasein, auch und gerade vor dem Hintergrund des nahezu unvermeidlichen Scheiterns eines solchen Lebensentwurfs.

Zentraler Bestandteil der Ausstellung sind die Reisetagebücher van der Lubbes kombiniert mit Videoaufnahmen scheinbar statischer Menschen des 21. Jahrhunderts in ihren eigenen vier Wänden. Mit der einzigen Auflage, ihre Position nicht zu verlassen, konfrontierten die Künstler die Beteiligten für fünf Minuten mit sich selbst und ihrer frei gewählten Privatsphäre. Das vermeintliche Angekommensein erweist sich schnell als Illusion. Nach einer kurzen Phase entspannten Stehens wird  Unruhe spürbar. Die Blicke schweifen umher, Langeweile kommt auf. Der Stillstand wird zur Tortur.

Ebenso erginge es wohl dem Betrachter, wären nicht zeitgleich Marinus’ Reisenotizen zu vernehmen. Dabei waren die beiden  Reisen quer durch Europa keineswegs sonderlich erbaulich. Schnee im Winter, Geldmangel, die ständige Sorge um das Schuhwerk, die tägliche Suche nach Unterkunft und Essen, die Schikanen der Polizisten welcher Nation auch immer, lästige Reisebegleiter und von Ungeziefer verseuchte Betten prägten die Wanderschaft van der Lubbes. Nicht einmal seine Ziele – Sowjetrussland und China – hat er jemals erreicht. Dennoch: die vorgelebte Möglichkeit, mit einem Ziel vor Augen auf dem Weg sein zu können, dem Stillstand zu entkommen, setzt ein Zeichen der Hoffnung.

Komplettiert wird diese Ausstellung – dem Anlass der Wiederaufnahme der künstlerischen Arbeit als solitaire factory nach fast fünf Jahren entsprechend – mit älteren und neuen Werken der Gruppe, die dem „Marinus“-Projekt zugehörig sind bzw. ihm inhaltlich entsprechen. Unmittelbar auf den Fall des Reichstagsbrandes beziehen sich drei kleine Bilder, die den Plenarsaal vor dem Brand, den Reichstagsbrand selbst und den Protagonisten selbst auf der Anklagebank zeigen. Das vierte dagegen verweist auf eine fast aktuelle Zeitungsmeldung. Denn er hat wieder gebrannt, der Reichstag. Wenn auch nur durch eine defekte Heizungsanlage. Mit uns zieht die neue Zeit!


Bertram Weißenborn
2003/2008